Buen vivir - Vom Recht auf ein gutes Leben

Buen vivir - Vom Recht auf ein gutes Leben

 

 

 

von: Alberto Acosta

oekom Verlag, 2015

ISBN: 9783865819062

Sprache: Deutsch

224 Seiten, Download: 1979 KB

 
Format:  EPUB, PDF, auch als Online-Lesen

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Buen vivir - Vom Recht auf ein gutes Leben



1
Die Wege der Hölle kennen, um sie zu meiden


»Auch wenn ich wüsste, dass morgen die Welt zugrunde geht, würde ich heute noch einen Apfelbaum pflanzen.«
Martin Luther
Die in den letzten Jahrzehnten in Lateinamerika vorgebrachten Vorschläge zum »Guten Leben« betreffen einen tief greifenden Wandel und Wege zur zivilisatorischen Veränderung. Die Mobilisierungen und die Volksaufstände, vor allem der indigenen Bevölkerung in Ecuador und Bolivien, bilden als Schmiede dauerhafter historischer, kultureller und sozialer Prozesse die Grundlage für das »Gute Leben« (»Buen Vivir« in Ecuador und »Vivir Bien« in Bolivien). In diesen Andenländern haben revolutionäre Ideen in den Debatten um die neuen Verfassungen an Kraft gewonnen, sind dann auch in diese eingegangen, haben sich bisher jedoch noch nicht in konkreten politischen Maßnahmen manifestiert …
Zusammenfassend kann man sagen, dass »Sumak Kawsay« eine Chance bietet, gemeinsam ein neues, anderes Leben aufzubauen. Es ist kein in ein paar Verfassungsartikeln niedergeschriebenes Rezept und auch nicht einfach ein neues Entwicklungsprogramm. Das »Gute Leben« ist im Kern der Lebensprozess, der einer Gemeinschaft von Völkern entspringt, die in Harmonie mit der Natur leben. Sie haben es geschafft, sich gegen die Vereinnahmung durch das Erbe eines lange währenden und schwer abzuschüttelnden Kolonialismus zur Wehr zu setzen. Mit ihren individuellen Vorschlägen entwickeln sie eine andere Zukunftsvision und speisen damit die globalen Diskurse. Das in diesem Buch zusammengefasste Bild des »Guten Lebens« greift Werte, Erfahrungen und vor allem bestehende Praktiken von Völkern in den Anden, im Amazonasgebiet und an anderen Orten der Welt auf.
Das »Gute Leben«, und das ist grundlegend, ist ein wichtiger qualitativer Schritt bei der Überwindung eines traditionellen Entwicklungskonzepts und seiner zahlreichen Synonyme. Es bringt neue, inhaltlich viel reichere, allerdings auch komplexere Visionen ein. Genau deshalb ist die Diskussion über das »Gute Leben« so besonders anregend.
»Die Visionen bieten eine Chance für den Aufbau einer anderen Gesellschaft.«
Die Konzeption des »Guten Lebens« zeigt Fehler und Grenzen der einzelnen sogenannten Entwicklungstheorien auf. Sie kritisiert das gängige Verständnis von »Entwicklung«, da es heute als Antriebskraft das Leben eines Großteils der Menschheit reguliert und bestimmt, obwohl es diesem Großteil perverserweise unmöglich ist, die so sehnsüchtig angestrebte »Entwicklung« zu erlangen. Gleichzeitig muss man feststellen, dass die angeblich fortgeschrittenen Länder immer mehr Anzeichen einer Fehlentwicklung aufweisen. All dies in einer Welt, in der die Kluft zwischen Reich und Arm selbst in den Industrieländern ständig größer wird.
 
Die Diskussion über das »Gute Leben« wird von vielen unterschiedlichen Vorschlägen bereichert, die sowohl regionale als auch überregionale Elemente aufgreifen. Die Visionen der von der Geschichte marginalisierten Völker, ganz besonders der indigenen Völker und Nationalitäten, bietet eine Chance für den Aufbau einer anderen Gesellschaft, die sich auf ein Zusammenleben der Menschen in ihrer Vielfalt und in Harmonie mit der Natur stützt, indem sie die in der Welt vorhandenen, unterschiedlichen kulturellen Werte anerkennt.
Die Frage, die man sich an diesem Punkt stellen muss, lautet: Ist es möglich und realistisch zu versuchen, innerhalb des Kapitalismus eine neue Sozialordnung aufzubauen? Eine Sozialordnung, die auf Menschenrechten und den Rechten der Natur basiert? Eine Ordnung, die von Harmonie, Gegenseitigkeit und Solidarität inspiriert wird? Die Antwort ist simpel: Das ist schlicht unmöglich. Also heißt die Aufnahme des »Guten Lebens« in die Verfassung noch lange nicht, dass das »alte« System, das in seinem Kern Ungleichheit und Verwüstung bedeutet, überwunden ist. Es heißt aber auch nicht, dass zuerst der Kapitalismus überwunden werden muss, um das »Gute Leben« umzusetzen. Wie man im Laufe einer Jahrhunderte währenden Kolonialisierung sehen konnte, sind die Werte, Erfahrungen und Praktiken des »Guten Lebens« oder »Sumak Kawsay« auch heute noch lebendig.
Wenn man verstehen will, was das »Gute Leben« beinhaltet – und das ist nicht, was man im Westen unter »Wohlstand« versteht –, muss man sich zuerst die Kosmovision bzw. die Weltanschauung der indigenen Völker und Nationalitäten vergegenwärtigen.
Zunächst wollen wir uns jedoch darauf konzentrieren, einige Differenzierungen und Präzisierungen vorzunehmen, um das Feld abzustecken.
Der Staat ist zwar nicht das einzige strategische Aktionsgebiet, doch erweist es sich als unerlässlich, ihn im Sinne von Plurinationalität und Interkulturalität neu zu denken. Dabei handelt es sich um ein historisches Anliegen, dem es nicht einfach darum geht, den derzeitigen Staat zu modernisieren, die indigenen und afrostämmigen Besonderheiten verwaltungstechnisch einzugliedern oder Sonderräume wie die zweisprachige interkulturelle Schulbildung für Indigene zu fördern oder bürokratische Stellen für den Umgang mit dem Indigenen zu schaffen. Die interkulturelle Schulbildung, und das soll hier kategorisch klargestellt werden, muss für das gesamte Bildungssystem konzipiert und auch umgesetzt werden, und dabei muss sie sich auf andere Grundkonzepte stützen, um das »Gute Leben« aufzubauen.
»Die Demokratie als solche muss neu gedacht und vertieft werden.«
In einem plurinationalen Staat müssen die kulturellen Kodices der indigenen Völker und Nationalitäten berücksichtigt werden. Das heißt, dass eine breit angelegte Debatte über dieses Thema zugelassen werden muss, um einen anderen Staat zu ermöglichen, der nicht an die eurozentrischen Traditionen gebunden ist. Bei diesem Prozess müssen die bestehenden Strukturen neu gedacht werden; Institutionen müssen aufgebaut werden, in denen eine horizontale Machtausübung zur Realität werden kann. Um das zu erreichen, muss der Staat von Einzelnen und vor allem von den Gemeinschaften als aktiven sozialen Organisationsformen »verbürgert« werden. Mit anderen Worten: Die Demokratie als solche muss neu gedacht und vertieft werden.
 
Das Thema ist und bleibt politisch. Wir können nicht auf eine »technische« Lösung warten. Unsere Welt muss politisch neu gedacht und von der Gemeinschaft aus neu geschaffen werden. Dementsprechend müssen wir einen Transformationsprozess anschieben, der von neuen Utopien gespeist wird. Ja, eine andere Welt wird möglich sein, wenn man sie gemeinschaftlich und auf der Grundlage der Menschenrechte – der politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen sowie der Umweltrechte des Einzelnen, der Familien und der Völker –, aber auch der Rechte der Natur denkt und organisiert.
Die Überwindung von Ungleichheit und Ungerechtigkeit ist genauso unerlässlich wie Entkolonialisierung und die Befreiung von patriarchalen Strukturen. Darüber hinaus muss der Rassismus bezwungen werden, der in vielen unserer Gesellschaften tief verwurzelt ist. Die sozialen wie auch die territorialen Fragen müssen dringend aufgegriffen werden.
Ebenfalls hat sich inzwischen die grob vereinfachende Sichtweise als hinfällig erwiesen, die den Ökonomismus als Drehachse der Gesellschaft sieht. Man setzt auf eine andere Zukunft, die nicht allein mit radikalen Diskursen ohne jegliche inhaltliche Vorschläge erreicht werden kann. Produktions-, Austausch- und Kooperationsverhältnisse müssen aufgebaut werden, die eine auf Solidarität basierende Suffizienz (nicht nur Leistungsfähigkeit) ermöglichen. An dieser Stelle möchten wir darauf hinweisen, dass der Mensch, wie die ecuadorianische Verfassung besagt, Mittelpunkt und grundlegender Faktor der Wirtschaft ist. In diesem Sinne sind der Ausbau würdevoller Arbeit zu stärken und jegliche Form der Prekarisierung zu verurteilen. Die Menschen müssen sich organisieren, um die Kontrolle über ihr eigenes Leben zurückzugewinnen. Aber es geht nicht allein darum, die Arbeitskraft zu verteidigen und die im Übermaß geleistete Arbeitszeit für die Arbeitenden wiederzugewinnen, sich also der Ausbeutung von Arbeitskraft zu widersetzen. »Sumak Kawsay« bedeutet viel mehr: die Verteidigung des Lebens gegen eine anthropozentrische Organisation der Produktion, die den Planeten durch Raubbau zerstört.
Aus oben Gesagtem ergibt sich, dass eine der großen Aufgaben darin besteht, die Trennung von Natur und Mensch aufzuheben. Wenn man die Zukunft des Menschen auf der Erde nicht gefährden will, ist es dringend notwendig, diese historische Veränderung umzusetzen. Darum geht es der ecuadorianischen Verfassung (2008), in der die Rechte der Natur verankert sind. In der bolivianischen Verfassung (2009) werden diese nicht angeführt, auch wenn in ihr der »Pacha Mama« oder der »Mutter Erde« eine bedeutende Rolle eingeräumt wird. Die Beziehung zur Natur ist ein Schlüsselaspekt für den Aufbau des »Guten Lebens«.
»Eine der großen Aufgaben besteht darin, die Trennung von Natur und Mensch aufzuheben.«
In Ecuador ist die Natur als Rechtssubjekt anerkannt. Diese biozentrische Haltung gründet auf einer alternativen ethischen Perspektive und erkennt die eigenen Werte der Umwelt an. Alles Seiende hat, auch wenn es nicht identisch ist, einen ontologischen Wert, auch dann, wenn es dem Menschen nicht nützlich ist. Die bolivianische Verfassung weist keine solche biozentrische Haltung auf. Mit ihrem Mandat zur Industrialisierung der Naturressourcen bleibt sie im Gegenteil sogar dem klassischen, auf der Aneignung der Natur basierenden Fortschrittsgedanken verhaftet.
 
Es geht nicht einfach darum, das bisher Getane...

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