Die Plastiksucht - Wie Konzerne Milliarden verdienen und uns abhängig machen
von: Jacqueline Goebel, Benedict Wermter
FinanzBuch Verlag, 2023
ISBN: 9783986093402
Sprache: Deutsch
304 Seiten, Download: 9467 KB
Format: EPUB, auch als Online-Lesen
Vorwort
Aufgewachsen im Plastikzeitalter
In unserem Blut schwimmen höchstwahrscheinlich Plastikpartikel. Diese Partikel sind sehr winzig, deshalb bemerken wir sie nicht. Wie lange sie bereits in unserem Blut schwimmen, wie sie dorthin gelangt sind, was sie in unserem Körper anrichten, auch das wissen wir nicht.
Erst im Jahr 2022 ist es einem Forschungsteam gelungen, Mikroplastik im menschlichen Blut nachzuweisen. Wissenschaftler der Freien Universität Amsterdam mussten erst eine Methode finden, um kleinste Plastikpartikel chemisch erkennen zu können – die Plastikteilchen in der Studie waren bis zu 0,0007 Millimeter klein. Die Forschenden fanden in 17 von 22 Blutproben Plastikpartikel.1 Eine Trefferquote von 77 Prozent, gleich beim ersten Versuch.
Das Forschungsteam konnte verschiedene Plastiksorten bestimmen und untersuchen, wie häufig sie im Blut einer Testperson vorkamen. Im Durchschnitt fand es in allen Proben 1,6 Mikrogramm auf einem Milliliter Blut. Wäre das Blut ein Glas voller Murmeln, dann wären gut eineinhalb von hundert Murmeln aus Plastik. Am häufigsten bestanden diese Plastikpartikel aus Polyethylenterephthalat (oder kurz PET). Die Hälfte der freiwilligen Testpersonen hatte diesen Kunststoff in ihrer Blutbahn.
Es ist nicht nur in unserem Blut. Mikroplastik ist überall auf der Welt zu finden, selbst an Orten, die für Menschen nicht zu erreichen sind. Im Jahr 2019 fand ein Forschungsteam der britischen Newcastle Universität eine bis dahin unbekannte Gattung von Flohkrebsen in der tiefsten Schlucht der Erde, dem Marianengraben. Sie tauften die frisch entdeckten Tierchen mit dem glatten, borstenlosen Panzer auf den Namen Eurythenes Plasticus. Der Flohkrebs hatte Mikroplastik in seinem Körper, obwohl er beinahe 7 Kilometer unter der Meeresoberfläche lebte. In seinem Darm fanden die Forscher eine Plastikfaser von 0,65 Millimetern, ebenfalls aus PET.2
Dieser Kunststoff ist einer der wichtigsten Werkstoffe der Welt. Wir kleiden uns in Pullovern aus diesem Kunststoff, schnallen uns mit Sicherheitsgurten aus PET an, verpacken Erdbeeren und Steaks in Schalen und trinken Wasser aus PET-Wegwerfverpackungen. PET macht etwa 6 Prozent der weltweiten Kunststoffproduktion aus.3 Ist es da ein Wunder, dass wir dieses Plastik im Blut und in Därmen von Lebewesen aus den tiefsten Schluchten der Erde finden? Wahrscheinlich nicht.
Wir unterscheiden heute die frühen Epochen der Menschheitsgeschichte in Steinzeit, Bronzezeit und Eisenzeit. Wir haben diese Epochen nach den wichtigsten Werkstoffen benannt, aus denen die Menschen damals ihre Werkzeuge formten. So gesehen leben wir heute im Plastikzeitalter.
Kunststoffe bringen der Menschheit technischen Fortschritt und Wohlstand. Kein Windrad dreht sich heute ohne Plastik, kein Elektroauto fährt ohne Kunststoffe, keine Blutkonserve käme ohne Kunststoff in die Operationssäle, es gibt kaum einen Supermarkteinkauf, von dem wir nicht mit Plastik in der Einkaufstasche zurückkehren. Plastik ist ein Treibstoff, der unsere Wirtschaft und unseren Konsum befeuert. Das hat uns abhängig gemacht. Unsere Gesellschaft hat sich an den einfachen, billigen, überall verfügbaren Konsum gewöhnt, den Einwegprodukte und Plastikverpackungen ermöglichen. Viele Konzerne haben ihre Geschäftsmodelle und ihre Zukunft auf Kunststoff aufgebaut – und kommen nun nicht mehr davon ab. Wie Suchtkranke kämpfen sie um ein Mittel, das ihnen vielleicht mehr schadet als hilft.
Selbst wenn Plastik einer der wichtigsten Werkstoffe der Menschheit ist, müssen wir bedenken, dass wir Plastik nicht nur als Werkzeug für spätere Gesellschaften hinterlassen. Im vergangenen Jahrhundert sind rund 5 Milliarden Tonnen Plastik in der Umwelt und auf Deponien gelandet, schätzte ein Forschungsteam bereits vor einigen Jahren.4 Diese Abfälle könnten sich als Sedimente auf dem Meeresgrund ablagern und eine Plastikschicht bilden, die selbst in Jahrmillionen noch auffindbar wäre.5
Das wäre ein trauriges Zeugnis der Moderne. Denn Plastik ist einer der größten Treiber der Erderwärmung. Die Kunststoffe werden aufwändig aus Öl gewonnen, dann mit hohem Energieaufwand in gigantischen Raffinerien verarbeitet, in Spaltöfen chemisch zerlegt und neu zusammengesetzt, in Produkte gepresst und geformt und um die Welt geschickt. Jeder dieser Schritte erzeugt Treibhausgase. Plastikabfälle können das Grundwasser kontaminieren, wenn sie in der Umwelt abgeladen werden. Plastikmüll kann krebserregende Stoffe bilden, wenn Menschen die Abfälle in ihren Gärten verbrennen oder in Müllverbrennungsanlagen und Zementwerken verfeuern. Fische, Robben und Wale schlucken Plastik statt Plankton und sterben daran. Und wir Menschen verzehren diesen Müll mit dem Fisch. Lange bevor Forschungsteams Mikroplastik in unserem Blut fanden, entdeckten sie die Partikel schon in Darm und Kot.
Wir – die Autorin und der Autor dieses Buchs – sind beide in Deutschland aufgewachsen, einem Land, in dem man Mülltrennung schon in Kindergarten und Schule kennenlernt. Die Deutschen gelten als Recyclingweltmeister, in kaum einem anderen Land haben Umweltschützer, Politiker und die Entsorgungswirtschaft so lange und hartnäckig versucht, Plastikmüll in einen Rohstoff zu verwandeln. Gelungen ist das nur begrenzt. Die Tausenden Plastikarten in der Welt sind auch für die Recycler eine Herausforderung. Recycling rechnet sich nicht. Es birgt Umweltrisiken, vor allem kann das Recyclingsystem nur einen Teil des Plastikabfalls auffangen.
Plastik ist weltweit ein Problem. Die Lieferkette der Kunststoffe streckt sich häufig über mehrere Kontinente. Das Öl wird in einem Land gefördert, in einem anderen zu Plastik verarbeitet, im dritten zu einem Produkt geschmolzen, im vierten verkauft und im fünften Land als Müll entsorgt. Plastikmüll kennt keine Grenzen, wenn er von Flüssen ins Meer und bis in internationale Gewässer getragen wird. Deshalb wollen wir in diesem Buch die globale Perspektive der Plastiksucht darstellen. Wir haben deshalb nicht nur in Europa recherchiert, sondern waren häufig in Asien unterwegs, haben mit Menschen aus Nordamerika und aus Afrika gesprochen, um die globale Dimension der Plastikkrise darstellen zu können.
Bei unseren Recherchen haben wir Konsumenten kennengelernt, die diese Auswirkungen jeden Tag zu spüren bekommen. Wir verwenden in diesem Buch das generische Maskulinum. Wir stellen an dieser Stelle klar, dass wir ausdrücklich alle Geschlechtsidentitäten einbeziehen. Die Umweltverschmutzung und Klimabelastung durch Plastik machen kaum Unterschiede zwischen Geschlechtern. Sie kennt aber einen Unterschied zwischen der Herkunft.
Viele der Menschen, die unter der Plastikkrise am meisten leiden, leben in Ländern, die nicht als wohlhabend gelten. Vor ihren Häusern leert keine Müllabfuhr Mülltonnen, es gibt keine geregelte Recyclingindustrie. Einige von diesen Menschen stellen wir in diesem Buch vor. Wir können nicht immer ihre wahren Namen nennen. Wer sich öffentlich gegen jene stellt, die in ihren Ländern Geld mit Plastik verdienen, lebt gefährlich. In anderen Fällen haben wir Quellen anonymisiert, weil es sich um Insider aus der Industrie handelt, die auf diese Weise offener und ehrlicher über die Verhältnisse und über kriminelle Machenschaften in der Branche sprechen können. Wenn wir Namen geändert haben, stellen wir das transparent dar.
Wir haben für dieses Buch mit Aktivisten und Gegnern der Plastikindustrie gesprochen. Wir haben auch mit jenen gesprochen, die Plastik produzieren, Produkte in Plastik verkaufen oder auf andere Weise finanziell von Plastik abhängig sind, wenn wir die Möglichkeit dazu hatten. Einige Unternehmen beantworteten unsere Fragen nur schriftlich oder reagierten gar nicht. Auch das legen wir offen.
Wer dieses Buch liest, soll danach verstehen, warum wir so süchtig nach Plastik sind und wo die wirtschaftlichen Ursachen dieser Abhängigkeit liegen. Wir wollen dafür den gesamten Lebenszyklus von Plastik nachzeichnen.
Im ersten Kapitel zeigen wir auf, wie Öl zu Plastik wird – und wer davon finanziell profitiert. Auch wenn wir schon lange darüber sprechen, wie wir weniger Plastik verbrauchen können: Die Industrie wettet weiter auf Wachstum des Plastikkonsums und kündigt neue Plastikfabriken an. Wir haben diese Baustellen besucht und erklären an ihrem Beispiel, wieso vielleicht nicht der Müll, sondern die Produktion die größte Herausforderung der Plastikkrise ist.
In Kapitel zwei gehen wir der Frage nach, wie Plastik uns als Gesellschaft geprägt hat. Unsere Konsumgesellschaft baut heute auf einer Infrastruktur auf, die ohne Plastik kaum möglich wäre. Das gilt insbesondere für die Plastikverpackung, das wichtigste Produkt der Plastikindustrie. Wir erklären deshalb, wie eine Verpackung entsteht und wann sie zu einem Problem wird.
In Kapitel drei beschäftigen wir uns mit dem Traum vom Recycling-Kreislauf – und warum dieser Traum bis heute nie vollständig Realität werden konnte. Wir zeigen auf, wie heute mit moderner Technik und harter Arbeit Müll sortiert wird, um Plastikabfälle wieder in einen Rohstoff zu verwandeln. Wir...