Machtverschiebungen im Weltsystem - Der Aufstieg Chinas und die große Krise

Machtverschiebungen im Weltsystem - Der Aufstieg Chinas und die große Krise

 

 

 

von: Stefan Schmalz

Campus Verlag, 2018

ISBN: 9783593435107

Sprache: Deutsch

489 Seiten, Download: 12655 KB

 
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Machtverschiebungen im Weltsystem - Der Aufstieg Chinas und die große Krise



Vorwort Der Wandel Chinas zur Weltmacht wurde in den vergangenen Jahren von einer Reihe tiefer Krisen und schwerer politischer Konflikten begleitet. Das Anliegen des vorliegenden Buches, diesen Umbruch zu vermessen, erwies sich als ehrgeiziges Unterfangen, das mehrere Jahre in Anspruch nahm. Der Aufstieg Chinas verlief nicht nur in einer kometenhaften Geschwindigkeit, sondern er beeinflusste auch die unterschiedlichsten Bereiche der Weltpolitik und Weltwirtschaft, sodass immer wieder neue Untersuchungen notwendig wurden. Beim ?langen Marsch? zur Fertigstellung des Manuskripts erhielt ich die Hilfe einer Fülle von Personen und auch verschiedener Institutionen. Bei dem Buch handelt es sich um eine aktualisierte und ergänzte Version meiner Habilitationsschrift, die am Institut für Soziologie der Friedrich-Schiller-Universität Jena eingereicht wurde. Mein besonderer Dank gilt Klaus Dörre, der mich an verschiedenen Stellen bei dem Projekt unterstützt hat, und den weiteren Gutachtern Stephan Lessenich und Hans-Jürgen Bieling. Das Jenaer DFG-Kolleg ?Postwachstumsgesellschaften? förderte die Arbeit mit einem Habilitationsabschlussstipendium. Die Erstellung des Buches war nur aufgrund verschiedener Auslandsaufenthalte möglich. Es ist mehr als ein Zufall, dass die ersten Skizzen der Habilitationsschrift im Spätsommer 2008, zum Zeitpunkt des Lehman-Brothers-Crashs, in Baltimore, einer stark deindustrialisierten Stadt an der US-amerikanischen Ostküste und die letzten Zeilen im Sommer 2014 in Guangzhou, dem Herzen des ?workshop of the world? zu Papier gebracht wurden. Den Aufenthalt am Institute of Sociology der Johns Hopkins University in Baltimore im Herbst 2008 bei Giovanni Arrighi und Beverly Silver hatte Hans-Jürgen Burchardt ermöglicht. Die Zeit in Guangzhou am Institute of Reform & Development in the Pearl River Delta (PRD) an der Sun-Yatsen-Universität verdanke ich meinem Gastgeber Qiu Haixiong. Bei einem Forschungsaufenthalt in Peking im Jahr 2012 erhielt ich die Unterstützung von Lutz Pohle und Shi Xiaohu bei der Planung der Interviews. Die Überarbeitung und Aktualisierung des Manuskripts für die Buchpublikation erfolgte im Frühjahr 2018 am Centre de recherche interuniversitaire sur la mondialisation et le travail der Université de Montréal, wo mir Gregor Murray einen Arbeitsplatz zur Verfügung stellte. Hinweise, Anmerkungen zum und Hilfe bei der Erstellung des Manuskripts oder einzelner Kapitel und Vorarbeiten zum Buch erhielt ich unter anderem von Dieter Boris, Florian Butollo, Matthias Ebenau, John Lütten, Vanessa Lux, Thomas Sablowski, Christoph Scherrer, Lea Schneidemesser, Jenny Simon, Tobias ten Brink, der Redaktion der Prokla. Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft und dem Kolloquium des Arbeitsbereichs Arbeits-, Industrie- und Wirtschaftssoziologie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Marcel Müller erledigte ein sorgfältiges Lektorat. Allen genannten Personen gilt mein Dank. Gewidmet ist das Buch meinen beiden Söhnen Kilian und Jonas. Stefan Schmalz Guangzhou, September 2018 1 Der Aufstieg Chinas - eine Frage der Soziologie 'Chinese people do not make trouble, but we are not cowards when involved in trouble. No foreign country should expect us to swallow the bitter fruit of damage to our sovereignty, security and development interests.' Staatspräsident Xi Jinping zu den Territorialkonflikten im Südchinesischen Meer 'How do you deal toughly with your banker?' Hillary Clinton, ehemalige US-Außenministerin zu China 1.1 Ein historischer Umbruch: Chinas Rückkehr auf die Weltbühne 1.1.1 Zwei konkurrierende Chinabilder Der Aufstieg Chinas zur Weltmacht ist in der heutigen Presselandschaft und in der aktuellen wissenschaftlichen Diskussion zu einem allgegenwärtigen Thema geworden. Eine schier unüberschaubare Bücherflut füllt die Regale manch einer Bibliothek, beinahe jede renommierte Tagesszeitung hat schon einen China-Schwerpunkt veröffentlicht. Dennoch wird selbst dem aufmerksamen Zeitungsleser nicht entgangen sein, dass sich an der Einschätzung, wie weit der Aufstieg Chinas in Weltpolitik und Weltwirtschaft wirklich reicht, die Geister scheiden. Auf der einen Seite stehen Positionen, die es als plausibel erachten, dass die Volksrepublik (VR) die Vereinigten Staaten von Amerika (USA) in naher Zukunft als Weltmacht Nummer eins ablösen könnte. Gut recherchierte Titel wie When China Rules the World. The End of the Western World and the Birth of a New Global Order (Jacques 2012), Der große Beutezug. Chinas stille Armee erobert den Westen (Cardenal/Araújo 2014) oder The Hundred Year Marathon. China's Secret Strategy to Replace America as the Global Superpower (Pillsbury 2016) stehen Pate für die Arbeit einer ganzen Strömung von Wissenschaftlern und Sachbuchautoren. Sie vertreten die These, dass China durch seinen Wachstumskurs bereits jetzt in das Zentrum der Weltwirtschaft gerückt sei. Das Land nutze seine wirtschaftliche Macht durch Investitionen, Kredite und Handel, um internationale Strukturen zu verändern (Wolf u.a. 2013: 47ff.; Huotari/Heep 2016; Prasad 2017). Außerdem verfüge China über gewaltige finanzielle Reserven. Gerade in Weltregionen wie Afrika und Südamerika sei das Land bereits heute der zentrale wirtschaftliche Kooperationspartner und sichere sich so auch den Zugang zu wichtigen Rohstoffquellen (zu Afrika: Jiang/Sinton 2011; Power u.a. 2012: 221ff.; Bräutigam/Gallagher 2014). Die rasche Internationalisierung der Währung Renminbi mache es lediglich zu einer Frage der Zeit, bis die 'Geldmacht China' (Sieren 2013) auch das internationale Finanzsystem neu gestaltet. Zwar habe das Land noch immer gewaltigen Nachholbedarf in Sachen Militär und Technologieentwicklung, aber auch hier sei eine rasche Aufholjagd absehbar (Heginbotham u.a. 2015; Yip/McKern 2016). Der 'Sinomania' (Anderson 2010) steht eine eher skeptische Strömung gegenüber. Gerade in den letzten Jahren sind Bücher wie The China Boom. Why China Will not Rule the World (Hung 2016), Red Capitalism. The Fragile Financial Foundation of China's Extraordinary Rise (Walter/Howie 2011) oder The China Crisis. How China's Economic Collapse Will Lead to a Global Depression (Gorrie 2013) erschienen. Sie verweisen darauf, dass die chinesische Wirtschaft in einer Strukturkrise stecke und neu justiert werden müsse, damit Chinas Wirtschaftswachstum nicht zu stark abflaut. Außerdem sei die Präsenz chinesischer (Staats-)Unternehmen im Ausland zwar gewachsen, aber bei weitem nicht mit den Investitionen, Finanz- und Distributionsnetzwerken großer westlicher transnationaler Unternehmen vergleichbar (Salidjanova 2011: 14ff.; Nolan 2012: 132ff.; Starrs 2013). Die chinesische Wirtschaft sei zudem vorwiegend in die unteren Produktionsstufen der globalen Wertschöpfungsketten eingebunden, während die Technologie- und Finanzunternehmen in den USA, Japan und Europa weiterhin die höchsten Renditen erwirtschaften (Smith 2016: 46ff.). Auch besitze das Land keine verlässlichen militärischen Alliierten, die Volksarmee sei logistisch und technologisch nicht imstande, mit den übermächtigen USA und ihrem globalen Bündnissystem mitzuhalten (Holslag 2010; Shambaugh 2013a: 269ff.; Hayton 2015: 209ff.). Zuletzt sei voraussehbar, dass der US-Dollar für viele Jahrzehnte die Weltwährung bleibe, da das chinesische Finanzsystem nicht fähig sei, in naher Zukunft mit dem US-amerikanischen Finanzsektor zu konkurrieren (Bowles/Wang 2013: 1381ff.; Prasad 2014: 229ff.; Germain/Schwartz 2017). Die unterschiedlichen Einschätzungen rühren daher, dass die zwei Linien in der China-Diskussion einzelne Entwicklungsdynamiken und Machtfaktoren unterschiedlich gewichten. Zwar zweifelt eigentlich niemand daran, dass die Volksrepublik China in den vergangenen Jahrzehnten eine schier atemberaubende wirtschaftliche Aufholjagd hinter sich hat. Seit ihrer langsamen Außenöffnung ab dem Jahr 1978 hat sich das Bruttoinlandsprodukt (BIP) des Landes mehr als versechzigfacht. China ist zur Wirtschaftsmacht Nummer zwei der Welt und zum 'Workshop of the World' (Gao 2012), zum größten Hersteller von Industrieprodukten, geworden. Auch der Außenhandel vervielfachte sich. China ist mittlerweile das wichtigste Land im globalen Güterhandel. Seit Beginn der Wirtschaftsreformen pumpten ausländische Investoren rund 2 Billionen US-Dollar nach Festlandchina. Auch haben heute mächtige transnationale Unternehmen wie der Erdölkonzern China Petroleum & Chemical Corporation (Sinopec), der Computerhersteller Lenovo oder der Internethändler Alibaba ihren Hauptsitz in der Volksrepublik. Sogar als Technologie- und Forschungsstandort gewinnt das Land an Bedeutung: Im Jahr 2017 meldeten Antragsteller aus China 48.824 Patente im Rahmen des Patent Cooperation Treaty (PCT) an, deutlich mehr als die Bundesrepublik. Im Finanzsektor hat das Land - ungeachtet umfangreicher Stützungskäufe in den Jahren 2015 und 2016 - Devisenreserven von über 3 Billionen US-Dollar (Januar 2018) angesammelt. Die vier größten Staatsbanken zählen zu den mächtigsten Finanzinstituten weltweit. Doch gerade wenn es darum geht, die chinesische Macht in der Weltwirtschaft und die Entwicklungsperspektive des chinesischen Modells zu bestimmen, gibt es unterschiedliche Auffassungen. Denn der Aufstieg Chinas ist ein komplexer Prozess mit vielen Variablen. Er berührt Fragen nach der Wirtschaftsentwicklung, der sozialen Auseinandersetzungen, der außenpolitischen Strategie und auch nach der wirtschaftlichen Dynamik sowie den politischen Interessengruppen in anderen Ländern. Sehr viele endogene und exogene Faktoren greifen ineinander. Der Interpretationsspielraum ist groß. Es müssen nicht nur verlässliche Daten gesammelt werden, sondern es kommt auch auf die Bewertungskriterien an. Im Mittelpunkt dieser Studie steht deshalb eine Frage der Soziologie. Denn es geht im Kern darum, wie überhaupt Macht im kapitalistischen Weltsystem ausgeübt wird. Welche sind die zentralen Machtebenen, wie verlagert sich Macht in Raum und Zeit, und wer sind eigentlich die zentralen Akteure? Oder präziser formuliert: Wie weit ist die Machtverschiebung nach China bereits fortgeschritten, welche globalen Strukturen sind hiervon besonders betroffen, und welche nicht? Der Machtbegriff spielt in den meisten Untersuchungen zum Thema eine eher untergeordnete Rolle. Letztlich werden oft einzelne Arenen oder Strukturen wie Finanzen (Walter/Howie 2011; Bowles/Wang 2013; Prasad 2017; Eichengreen/ Lombardi 2017), Sicherheit (Holslag 2010; Chansoria 2011; Cliff 2015) oder der Zugriff auf Ressourcen (Economy/Levi 2014; Jiang/Sinton 2011) isoliert betrachtet. Der Versuch, diese Ebenen zusammenzudenken und dabei auch genauer zu reflektieren, welche die zentralen Strukturen und Indikatoren zur Vermessung der chinesischen Machtposition sind, wurde bisher nur im Einzelfall unternommen (etwa Shambaugh 2013a; Cohen/Chiu 2014; D'Ávila Magalhães 2018). Gerade der Zusammenhang zwischen den Grundlagen des rasanten wirtschaftlichen Aufholprozesses und Chinas neuer Rolle als Großmacht bleibt unterbelichtet. Bei der Analyse der chinesischen Machtposition lassen sich indes einige Herausforderungen identifizieren: Erstens besteht das Problem, inwieweit Beobachter dem chinesischen Staat überhaupt zutrauen, den raschen Zuwachs an wirtschaftlichen Ressourcen in der Volksrepublik perspektivisch auch in Macht im internationalen System umzusetzen. China fügte sich mit dem Beitritt in die World Trade Organization (WTO) im Jahr 2001 äußerst spät in das Regelsystem des Welthandels ein (Lardy 2002; Breslin 2007: 89ff.). Erst seit der Etablierung der Go-out-Politik bzw. Going-Global-Strategie (z?uch?q? zhànlüè) im Jahr 1999 werden chinesische Unternehmen dazu ermutigt, im Ausland zu investieren (Salidjanova 2011: 4f.). Umfangreiche Kreditbeziehungen zu anderen Staaten existieren seit den 2000er Jahren. Die Ressourcensicherung im Ausland wurde mit dem immer größeren Hunger nach Rohstoffen Ende der 1990er Jahre zum wichtigen Thema. Die Internationalisierung des Renminbi kam gar erst Ende 2008 auf die Tagesordnung (Zhang 2009: 24ff.; Zhou Xiaochuan 2009; Gao/Yu 2011). Auch militärisch ist China ein latecomer: Die Volksarmee nahm ihren ersten Flugzeugträger Liaoning im Jahr 2012 in Betrieb. Der Einfluss Chinas im globalen Institutionengefüge ist nach wie vor begrenzt (Wade 2011). Zwar war mit der Aufwertung der Gruppe der 20 (G20) im Rahmen der Weltfinanzgipfel eine Stärkung der Position des Landes verbunden, auch trat die lange erwartete Stimmrechtsreform im Internationalen Währungsfonds (IWF) Ende 2015 in Kraft. Gleichzeitig hat aber die Gruppe der 7 (G7), ein exklusiver Klub der alteingesessenen Industriestaaten, wieder an Bedeutung gewonnen. China setzt darum vermehrt auf alternative Foren der global governance, des Weltregierens. Auf den jährlichen BRICS-Gipfeln (Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika) werden etwa gemeinsame Positionen in der Finanz-, Wirtschafts- und Außenpolitik abgestimmt und erste Institutionen, etwa eine Entwicklungsbank, aufgebaut (Prashad 2013: 61ff.; Cooper/Farooq 2015; Liu 2016; kritisch: Kasahara 2017). Vielleicht noch bedeutender ist das Projekt einer neuen Seidenstraße (One Belt, One Road, yídài yílù), das umfangreiche Investitionen in die Infrastruktur in Eurasien vorsieht und so China mit Europa und Ostafrika besser vernetzen soll. Begleitend zu den Infrastrukturprojekten wurden auch neue Institutionen etabliert, etwa die Asian Infrastructure Investment Bank (AIIB) mit 57 Gründungsmitgliedern (Miller 2017: 35f.; Callaghan/Hubbard 2016). So geht es bei der Bewertung der chinesischen Machtstellung auch um strategische Weichenstellungen, wie das wirtschaftliche Potenzial auf der Weltbühne eingesetzt wird. Zudem zeigen Beispiele aus der Geschichte, dass die Zeiträume für die Veränderung globaler Strukturen sehr lang sind. Bis die USA von der größten Wirtschaftsmacht Ende des 19. Jahrhunderts zum Angelpunkt des globalen Finanzsystems nach dem Zweiten Weltkrieg wurden, vergingen rund fünfzig Jahre (Eichengreen 2000: 39ff., 86ff., 132ff.). Allerdings scheiterten ähnliche Prozesse auch immer wieder. Deutschlands Großmachtallüren endeten im 20. Jahrhundert in zwei Weltkriegen. Nachdem Japan in den 1980er Jahren bereits als Herausforderer der US-Hegemonie galt, stoppte der Aufholprozess abrupt unter externem Druck (Währungsaufwertung und neue Importschranken für den US-Markt) und internen Krisendynamiken (Finanz- und Immobilienkrise). Heute stellt sich die Frage, ob China ähnlichen Widersprüchen ausgesetzt sein wird (Pettis 2013a: 15ff.) und ob ein solcher Aufstiegsprozess wirklich ein 'peaceful rise' (Bijian 2005) sein kann (kritisch: Mearsheimer 2006). Es geht also darum, neben einer exakten Analyse des Status quo aus den laufenden Entwicklungen eine Prognose für kommende Prozesse zu erstellen - eine schwierige Aufgabe. Zweitens sind auch die komplexen Beziehungen zwischen China und anderen Weltregionen ein Streitpunkt in der Debatte (Schmidt/Heilmann 2010; Bittencourt 2012; Power 2012; Shambaugh 2013b; Gallagher 2015; Sun 2017; Benner u.a. 2018). So haben sich USA in den vergangenen Jahren bei chinesischen Gläubigern hoch verschuldet (Brender/Pisani 2009: 46ff.; Liew 2010; Prasad 2014: 89ff.). Allerdings ist die chinesische Exportwirtschaft - oftmals Niederlassungen von transnationalen Unternehmen, die den Standort zur bloßen Lohnveredelung nutzen - recht stark von den Absatzmärkten in den USA und Europa abhängig (Kiely 2015: 88; Bieler/ Morton 2018: 166ff.). Auch werden viele Kredite in US-Dollar gehalten, sodass die Hebelwirkung der chinesischen Finanzmacht begrenzt ist. Ähnlich widersprüchlich ist das Verhältnis Chinas zu seinen Nachbarn: Die chinesische Volkswirtschaft ist seit der Asienkrise 1997/98 zum unbestrittenen Wirtschaftsmotor Ostasiens herangewachsen (Kawai u.a. 2012a; Lam u.a. 2012). Auch wurden in der Region Bemühungen zur Finanz- und Wirtschaftskooperation umgesetzt. Allerdings haben sich Territorialstreitigkeiten zu ernsthaften Konflikten gesteigert, sodass heute eine eigentümliche Spannung zwischen einer transnationalen Vernetzung und einer geopolitischen Segmentierung existiert (Brink 2010a: 578ff.; Ikenberry 2015). Darüber hinaus wuchs China zu einem wichtigen Akteur auf anderen Kontinenten der ?Dritten Welt? heran: Für Afrika und Teile Südamerikas wurde das Land zum zentralen Handelspartner, der große Mengen an Rohstoffen importiert und selbst Industrieprodukte liefert. Die Vernetzung reicht dabei von Investitionen über kulturelle Beziehungen bis zur Arbeitsmigration. Umstritten ist, inwieweit Chinas Engagement neue wirtschaftspolitische Spielräume öffnet. Je nach Interpretation erscheint China etwa in Afrika entweder als Akteur mit einer hohen 'soft power' (Kurlantzick 2008; King 2013; kritisch: Shambaugh 2013a: 207ff.) oder als neue imperialistische Macht (Campbell 2008; kritisch: Bräutigam 2009; Sun 2017). Drittens ist unklar, ob China seinen Hochwachstumskurs mittelfristig fortsetzen kann (Naughton 2010; Brink 2012; Pettis 2013a: 137ff.; Hung 2016: 151ff.). Dabei herrscht allgemeines Einvernehmen darüber, dass die chinesische Volkswirtschaft in den letzten Jahren durch einen großen Export- und Investitionsüberhang gekennzeichnet ist. Der Anteil des Binnenkonsums sank in den 1990er und 2000er Jahren laut offiziellen Zahlen deutlich, bereits seit vielen Jahren erwirtschaftet das Land hohe Leistungsbilanzüberschüsse. Es gibt deutliche Anzeichen einer Blase im Immobiliensektor (García-Herrero/Santabárbara 2011; Tsai 2015; Glaeser u.a. 2017), Nachrichten über faule Kredite in einem umfangreichen Schattenbankensystem häufen sich (Elliot u.a. 2015). Folglich steht China an einem Scheideweg: Die Parteiführung um Staatspräsident Xi Jinping setzt deshalb auf wirtschaftliche und politische Reformen. Ob Maßnahmen wie eine Reform des Finanzsystems, Anreize zur Förderung des Binnenkonsums, eine Förderung der Aufwertung der Industriestruktur und eine rigide Antikorruptionskampagne jedoch erfolgreich sein werden, entscheidet sich auch daran, ob sie effektiv umgesetzt werden können (Brink 2012: 212ff.; Naughton 2014). Das Zusammenspiel zwischen verschiedenen Regierungsebenen funktioniert nicht immer reibungslos. Außerdem haben sich in der Kommunistische Partei Chinas (KPCh) mächtige Interessengruppen herausgebildet, deren Privilegien durch Reformen eingeschränkt werden könnten (Ho 2012). Ferner ist die gesellschaftliche Spaltung gewachsen. Immer wieder kommt es zu sozialen Auseinandersetzungen und Streiks, die den Handlungsdruck auf den chinesischen Staat erhöhen (Lee 2013; Schmalz u.a. 2017). Es besteht die Gefahr einer wachsenden Instabilität, die in der Delegitimierung des politischen Systems oder gar territorialer Sezession enden könnte. Diese innenpolitische Dimension spielt in der Diskussion um den chinesischen Aufstieg eine wichtige Rolle. Viele Wissenschaftler glauben, dass China nur dauerhaft in den Mittelpunkt der Weltwirtschaft aufrücken kann, wenn die interne Umstrukturierung gelingt (Pettis 2013b: 69ff.; Erber 2014; Hung 2016: 163ff.). Es herrscht also Ungewissheit über die wirtschaftspolitische Steuerungsfähigkeit und das Ineinandergreifen nationaler und globaler Prozesse. Zuletzt wird spiegelbildlich zum Aufstieg Chinas auch die Machtposition der westlichen Welt diskutiert (zum Beispiel; Luce 2012; Panitch/Gindin 2012; Mann 2013; Fischer 2018). Dabei stehen die Vereinigten Staaten im Zentrum der Aufmerksamkeit, nahmen der US-amerikanische Staat, US-Unternehmen und die amerikanische Gesellschaft doch seit dem Zweiten Weltkrieg eine hegemoniale Rolle im globalen Kapitalismus ein. Ähnlich wie im chinesischen Fall existieren zwei USA-Bilder: Entweder gelten die Vereinigten Staaten als verschuldete, wirtschaftlich träge, politisch zerstrittene, auf Finanzgeschäfte ausgerichtete, deindustrialisierte Nation, die den Höhepunkt ihrer Macht schon lange überschritten hat und allenfalls noch Niedergangsmanagement betreiben kann (Arrighi 2008: 222ff.; Luce 2012; Gordon 2016: 605ff.). Oder sie werden als ökonomisch dynamische und militärisch außergewöhnliche Macht beschrieben, die kulturell und auch technologisch Maßstäbe setzt, über ein globales Netzwerk an Verbündeten verfügt und mit dem US-Dollar als Weltgeld das Finanzgeschäft dominiert (Panitch/Gindin 2012; Babones 2017; Scherrer 2015). Ähnliche Debatten gibt es auch zur Rolle der EU, die Mal als 'postmodernes Imperium' (Cooper 2002) oder 'Globalisierungsakteur mit imperialen Ambitionen' (Bieling 2010a: 221) dargestellt wird, während manchmal auch ihr 'erfolgreicher Abstieg' (Sandschneider 2011; vgl. auch Fischer 2018) prognostiziert wird. Die Frage nach der Rolle des Westens ist von wesentlicher Bedeutung, da seine Schwäche Chinas Aufstieg beschleunigen, umgekehrt aber auch bremsen oder blockieren kann. 1.1.2 Der Einschnitt: Die Finanz- und Wirtschaftskrise 2008/09 Wie sehr die wirtschaftliche Entwicklung und die Machtposition einzelner Nationalgesellschaften miteinander verknüpft sind, wurde in der Finanz- und Wirtschaftskrise 2008/09 offensichtlich. In ihr bekam die Diskussion um den Aufstieg der Volksrepublik eine neue Schlagseite. Bereits kurz nach dem Höhepunkt der Krise wurden im US-amerikanischen außenpolitischen Establishment Stimmen laut, die in ihr einen 'geopolitischen Rückschlag für den Westen' sahen (Altman 2009; Bergsten 2009; kritisch: Cox 2014; Helleiner 2014). Die Krise führte zu einer erneuten Debatte über einen möglichen US-amerikanischen decline, in der verschiedene Argumente für einen Abschwung des Westens ins Feld geführt wurden (Layne 2009; Brzezinski 2012; kritisch: Nye 2010; Babones 2017). Viele Beobachter überraschte die Heftigkeit der Finanz- und Währungskrise in den USA und Europa, hatten weltwirtschaftliche Prozesse auf den Reißbrettern der außenpolitischen Thinktanks doch lange eine eher randständige Rolle gespielt. Plötzlich stand die Frage im Raum, wie weitgehend die geopolitischen Auswirkungen der Krise sein würden. Die Antworten reichten von eher vorsichtigen Prognosen, die die USA weiterhin als unangefochtene Weltmacht Nummer eins wahrnehmen (Nye 2010; Panitch/Gindin 2012; Cox 2014), über Szenarien einer graduellen Machtverschiebung (Mahbubani 2008; Brzezinski 2012: 75ff.) bis hin zur These einer umfassenden Hegemoniekrise (Silver/Arrighi 2011; Subramanian 2011). Den Grund hierfür bildete die Ungleichzeitigkeit der Krisenauswirkungen. Sie wichen von früheren vergleichbaren Prozessen ab: Die Große Depression (1929-1933) war eine weltweite Krise, von der alle Weltregionen außer der Sowjetunion gleichermaßen betroffen waren. Die Produktion brach in den meisten Industrieländern massiv ein; in den USA sogar um bis zu 80 Prozent. In den Entwicklungsländern gingen wiederum die Primärgüterexporte zurück; im Fall von Chile um über 80 Prozent (Kindleberger 1979: 200). Aktuellere Krisenprozesse wie die Schuldenkrise 1982 oder die Asienkrise 1997/98 betrafen meist die Staaten des globalen Südens, während sich die USA, Kanada und die europäischen Länder von den Zusammenbrüchen relativ erfolgreich abschirmen konnten (Gowan 1999: 103ff.; Boris 2004). Die Krise 2008/09 hingegen war eine 'transatlantische Krise' (Best/Higley 2014; vgl. auch Jessop 2013). Ihr Epizentrum lag in den USA und sie traf vor allem Nordamerika, Europa und auch Japan, wohingegen viele Schwellen- und Entwicklungsländer im globalen Süden eine erstaunliche Resistenz gegenüber ihren Auswirkungen zeigten (Nesvetailova/Palan 2010; Nayyar 2011: 20ff.; Schmalz/Ebenau 2012: 494ff.; Tabelle 1.1). So wurden China, Indien und große Teile des afrikanischen Kontinents zu keinem Zeitpunkt von einer Rezession erfasst, während die USA und Europa zunächst in eine tiefe Krise fielen. Insbesondere China wies eine hohe Widerstandsfähigkeit gegenüber der globalen Finanzkrise auf und wurde zeitweise zum unbestrittenen Konjunkturmotor der Weltwirtschaft. Rund ein Jahrzehnt nach der Krise hat sich dieses Bild etwas relativiert. Große BRIC-Staaten wie Brasilien und Russland gerieten 2014/15 erneut in Krisenprozesse. Allerdings wuchs die Wirtschaft in vielen Ländern Süd- und Ostasiens weiterhin mit erstaunlich hohen Raten, während viele frühindustrialisierte Staaten im gesamten Krisenjahrzehnt strukturelle Wachstumsschwächen aufwiesen (Streeck 2014; Nachtwey 2016: 43ff., Dörre 2017). Ursächlich für die ungleiche Ausbreitung der Krise waren zwei Faktoren: Zum einen wurde die Krisendynamik von den nationalen Institutionen zur Regulierung der Finanzmärkte beeinflusst (Amable u.a. 2010). Während in den USA und den meisten europäischen Staaten der Finanzsektor massiv liberalisiert wurde, wies China einen staatlich kontrollierten, mit Kapitalverkehrskontrollen abgeschirmten Finanzsektor auf (Liang 2010: 61f.; Zhang/Yu 2012: 141; May u.a. 2014). Außerdem zeigte die Staatsführung mit einem umfangreichen Konjunkturprogramm große Handlungsfähigkeit (Breslin 2012a; Lardy 2012). Manche Analysen legen deshalb nahe, dass das staatlich orientierte Kapitalismusmodell Chinas (und anderer Schwellenländer) krisenfester als der westliche Finanzmarktkapitalismus ist (Bremmer 2010: 42ff.). So wurden Begriffe wie chinesischer 'Staatskapitalismus 3.0' (Brink/Nölke 2013), 'Sinokapitalismus' (McNally 2012) oder 'autoritärer Kapitalismus' (Deppe 2013; Bloom 2016) eigentlich erst in der Krise zu gängigen Topoi in der wissenschaftlichen Diskussion. Zum anderen gingen aus der Finanz- und Wirtschaftskrise ab 2008 teilweise genau jene Länder - zumindest vorerst - gestärkt hervor, die zuvor lange Zeit als chronische Krisenherde (etwa die Türkei) galten. Denn die räumliche Dimension des Zusammenbruchs wurde neben der nationalen von einer weiteren Ebene strukturiert, nämlich den Dynamiken des Weltmarkts und dessen politischer Regulierung. Im Vorkrisenjahrzehnt war der globale Süden nicht nur deutlich rascher gewachsen als die frühindustrialisierten Länder, sondern viele Schwellenländer hatten sich auch als Überschussländer etabliert, waren auf diese Weise zu Gläubigerstaaten in der Weltwirtschaft aufgestiegen und hatten an Anteilen am Weltexport sowie an wirtschaftspolitischen Handlungsspielräumen gewonnen (Glyn 2005; Wolf 2008: 111ff.). China war das Gravitationszentrum dieser globalen Restrukturierung: Die hohe Nachfrage aus der Volksrepublik China wirkte als Preistreiber für Rohstoffe und Agrargüter (Farooki/Kaplinsky 2012: 70ff.). Auch begünstigten billige Kredite und Direktinvestitionen aus China die wirtschaftliche Dynamik in anderen Schwellen- und Entwicklungsländern. Gleichzeitig folgten jedoch trotz der markanten Umbrüche im globalen Machtgefüge unmittelbar nach der Krise keine umfassende protektionistische Abschottung oder kriegerische Konflikte. Der Übergang von der Weltkrise in den Weltkrieg blieb anders als nach der Großen Depression von 1929 bis 1933 aus. Es kam zwar zu Handelskonflikten, aber bisher zu keinem Zusammenbruch des Weltmarkts. Nach dem Schwarzen Freitag im Oktober 1929 verringerte sich das Volumen des Welthandels innerhalb von nur vier Jahren um rund zwei Drittel (Kindleberger 1979: 179ff.; Bussière u.a. 2011; Abbildung 1.1).

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