Handbuch Moderation - Konzepte, Anwendungen und Entwicklungen

Handbuch Moderation - Konzepte, Anwendungen und Entwicklungen

 

 

 

von: Joachim Freimuth, Thomas Barth

Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG, 2014

ISBN: 9783840923753

Sprache: Deutsch

486 Seiten, Download: 14820 KB

 
Format:  PDF, auch als Online-Lesen

geeignet für: Apple iPad, Android Tablet PC's Online-Lesen PC, MAC, Laptop
Typ: A (einfacher Zugriff)

 

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Handbuch Moderation - Konzepte, Anwendungen und Entwicklungen



Entwicklung einer neuen Führungskultur

Planungen und Entscheidungen betroffenen Akteure mit ins Spiel zu bringen. Die entsprechenden Methoden wurden im täglichen Arbeiten mit Kunden und in Selbstexperimenten über Jahre hinweg vervollkommnet, systematisch reflektiert und später in lehrbare Formate gebracht (Friedmann, 1996). So entstehen soziale Innovationen, als pragmatische Antwort auf reale Probleme der Gesellschaft und verbunden mit integrierenden Leitideen. Grob gesagt sind es folgende Einflüsse, die für die Entstehung der Moderation in Deutschland prägend waren (Freimuth, 2010; Freimuth & Straub, 1996):
• Die Systembetrachtung und die Beobachtung der Kommunikation in Organisationen bzw. mit ihrem Umfeld, worauf die frühe Kybernetik aufmerksam machte,
• die emanzipatorische Dimension der Beteiligung Betroffener an Planungen und Entscheidungen in hierarchischen Organisationen, die aus der Erfahrung des totalitären Deutschland und den daraus resultierenden Demokratisierungsbemühungen entstand,
• das pragmatische Interesse an umsetzbaren Lösungen und konkreten Verbesserungen, das sich im Kern an den amerikanischen Pragmatismus anlehnte,
• sowie schließlich die kollektive Reflexion dieses Innovationsprozesses und des eigenen Lernens, unter dem Einfluss von gruppendynamischen Konzepten, u. a. Themenzentrierte Interaktion (TZI).

Die Erfindung der Moderation in den 60erund 70er-Jahren war eine der ganz wenigen ernsthaften und wirksamen eigenständigen Beiträge in Deutschland zur Entwicklung einer neuen Organisationsund Führungskultur. Daraus ist eine Grundhaltung entstanden, dass die hier auftretenden Probleme unterschiedliche Antworten ermöglichen und daher nur diskursiv gelöst werden können (Beispielhaft für diese Zeit: Dahrendorf, 1968). Die Vielschichtigkeit der in diesem Handbuch versammelten Beiträge sowie die Unterschiedlichkeit der Anwendungen und Formate können als Beleg dafür gesehen werden, dass die Idee der Moderation an gestalterischer Kraft nichts verloren hat. Sie war und ist immer wieder in der Lage, auch auf völlig neue Anforderungen der sozialen Realität kreative Antworten zu geben und soziale Innovationen zu initiieren, ob es sich etwa um Großgruppen, virtuelle Gruppen oder Protestbewegungen handelt. Moderation war eine soziale Innovation und bringt andererseits offenbar ständig neue Formen und Formate als Antwort auf Kooperationsund Kommunikationsprobleme in der sozialen Realität hervor. Das passiert nicht am Schreibtisch, sondern mitten im Geschehen, der Beobachtung dieses Geschehens und des eigenen Lernens, also in reflektierter Praxis. Diese beiden Perspektiven, Moderation als soziale Innovation und als reflektierte Praxis, werden im Folgenden genauer betrachtet.

2 Moderation aus der Perspektive „Soziale Innovation“

Nach Franz (2010) kann soziale Innovation unter Rückgriff auf Crozier und Friedberg (1993) als die Herausbildung und Durchsetzung neuer Formen und Prozesse von Kooperation und Konflikthandhabung, als neue soziale Praktik verstanden werden. Das war und ist immer der Anspruch von Moderation gewesen. Dazu ein aktuelles Beispiel: In einem Leitfaden der EUKommission von 2012 zu „Smart Specialisation“ (Foray et al., 2012, S. 112) wird soziale Innovation in Bezug gesetzt zu regionalen Entwicklungsprozessen. Derartige Prozesse sind komplex und konfliktreich, sie umfassen u. a. die politische Willensbildung, die Entwicklung regionaler Visionen und Strategien, ihre Konkretisierung in kollaborativen Entwicklungsprozessen mit unterschiedlichen Institutionen und die Realisierung von Innovationen in Einzelorganisationen. Hier bieten sich also Moderationsanlässe auf verschiedensten Niveaus und in vielen möglichen Varianten, wenngleich das Einigungspotenzial dieser Verfahren von vielen verantwortlichen Akteuren noch völlig unterschätzt wird. Angesichts der vielen Konflikte, die wir in Deutschland aktuell mit der Durchsetzung solcher Projekte haben, ist aber zu erwarten, dass es in absehbarer Zeit hier womöglich sogar gesetzliche Regelungen geben wird, um Transparenz und Bürgerbeteiligung durch moderierte Aushandlungsformen sicherzustellen (Voss & Kockler, 2012).

Besonders hervorzuheben ist in dem genannten EU-Leitfaden der Satz: „Social innovations are innovations, that are social in both their ends and their means.“ Soziale Innovationen sind demnach neue Ideen in Form von Modellen oder Konzepten, aber auch Produkten oder Dienstleistungen, die soziale Bedürfnisse treffen und neue soziale Beziehungen oder Kollaborationen kreieren. Sie werden als Entwicklung von neuen Formen der Organisation und Interaktion verstanden, die auf konfliktreiche soziale/gesellschaftliche Fragestellungen Antworten bieten. Soziale Innovation bezieht sich auf eine soziale Nachfrage oder ein soziales Bedürfnis und trägt dazu bei, dass eine gesellschaftliche Herausforderung adressiert und gelöst wird. Durch ihre Prozessdimension unterstützt sie darüber hinaus, Gesellschaft neu zu formen in die Richtung von Partizipation, Empowerment, Co-Kreation und Lernen. Das ist stets auch ein unruhiges, kreatives Potenzial, das offenbar zugleich die Bedingung der Möglichkeit dafür bildet, wiederum neue soziale Praktiken hervorzubringen. Anders ausgedrückt: Das Potenzial für die Selbstorganisationsfähigkeit in sozialen Ordnungen vergrößert sich, wenn der Prozess mal begonnen hat und entsprechendes Vertrauen entstanden ist. Natürlich können solche Prozesse auch scheitern, weil die Bedingungen fragil sind und Kommunikation nicht immer gelingt (Svendsen & Svendsen, 2004). Moderation erhöht die Wahrscheinlichkeit gelingender Kommunikation und leistet darüber so einen Beitrag zur Selbstorganisationsfähigkeit in der Gesellschaft.

Martens (2010, S. 372) stellt die Behauptung auf, „... dass heute angesichts (1) der Subjektivierung, Flexibilisierung und teilweisen Entgrenzung von Arbeit, (2) fortgeschrittener Prozesse der Erosion überkommener institutioneller Strukturen sowie (3) zunehmend krisenhafter ökonomischer Entwicklungen Beteiligungspotenziale und -bereitschaften der Beschäftigten vorhanden sind, die es so in früheren Entwicklungsphasen von industrieller wie Dienstleistungsarbeit noch nicht gegeben hat und deren Nutzung eine wesentliche Voraussetzung zur stabilen Bewältigung gegenwärtiger Umbruchsprozesse sein dürfte.“ Damit hängt auch der beobachtbare Tatbestand zusammen, dass rechtlich etablierte Verfahren in solchen Konfliktfällen zwar Legalität für sich beanspruchen können, aber eben keine Legitimität. Überall dort, wo heute nach „runden Tischen“ gerufen wird, fühlen sich Betroffene in den vorherrschenden legalistischen Prozeduren nicht mehr angemessen repräsentiert und. Verweigerung oder Protestbewegungen sind die Konsequenz. Es entsteht der Bedarf nach offeneren und zugänglicheren Verfahren, denen vertraut wird, die aber auch in der Lage sind, die Komplexität der zu lösenden Probleme adäquat abzubilden.

Schon heute und sicher noch mehr in der Zukunft, so lässt sich also kurz resümieren, kann ein erhöhter Bedarf an partizipativer Problemund Konfliktlösung in unterschiedlichen gesellschaftlichen Kontexten konstatiert werden. Die globale Ökonomie, technologische Entwicklungen, der Wandel von Wertigkeiten und ein erhöhtes Demokratiebewusstsein spielen hier mit hinein. Aber scheinbar haben sich die notwendigen institutionellen Bedingungen dafür nicht mitentwickelt, im Gegenteil (Putnam, 2000). Es spricht einiges dafür, das für die anstehenden Probleme lernfähigere und adaptivere Verfahren notwendig sind, die man als soziales Kapital einer Gesellschaft bezeichnen kann, „a set of relationships and shared values and used by multiple individuals to solve collective problems in the present and future“ (Ostrom, 2009, S. 22). Dabei könne es sich um große oder kleine Gruppen handeln, die in unterschiedlicher Weise kooperieren, um gemeinsame Ziele zu erreichen. Die in diesen dezentralen und organischen Formen der Zusammenarbeit erlernten Kompetenzen bleiben den Akteuren erhalten und sie können sich für zukünftige Probleme immer wieder darauf beziehen (ausführlicher: Ostrom, 1999). Moderation bietet dafür die methodischen, sozialen und normativen Voraussetzungen. Die Verfahren haben sich seit Jahren bewährt und entfalten angesichts der modernen Herausforderungen immer wieder ihr Potenzial für soziale Innovationen. Neuere Moderationsmethoden, die etwa auch die technologischen Entwicklungen nutzen (Internet, Vernetzung, Web 2.0) verweisen auf die kaum ausgeschöpften Weiterentwicklungspfade der Beteiligung durch Moderation.

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